Archiv Felsberg

Juden lebten über 200 Jahre in Gensungen

Es gibt nur eine recht umfangreiche und lesenswerte Beschreibung zum Thema “jüdisches Leben“ in Gensungen.

Heimatforscher Hermann Fröhlich hat in seinem Spätwerk „Malzsteinchen & Veilchenpastillen“ (1994) in einem Kapitel seiner Erinnerungen „Die Gensunger Judenfamilien“ jüdisches Leben in Gensungen beschrieben. Für diese Beschreibung können wir ihm heute noch dankbar sein, denn es gibt keine Zeitzeugen mehr. Leider bricht die Darstellung mit Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft 1933 unvermittelt ab. Es wird kein Wort über die Boykottaufrufe, die Nürnberger Rassegesetze, die Pogrome und den Druck zur Auswanderung verloren. Der Bericht endet mit einer Beschreibung des Hauses Hammerschlag, seinem Funktionswandel vom Wohnhaus zum Bürgermeisteramt und seiner heutigen Nutzung als Heimatmuseum (seit 1976).

Hermann Fröhlich galt als unbelastet, er fürchtete aber immer „irgendwem auf die Füße zu treten“ und erging sich vorsichtshalber nur in Andeutungen. Es war allgemeiner Konsens keine Namen der Verantwortlichen zu nennen und möglichst nur verharmlosende und relativierende Aussagen zu treffen.

In den Ortschroniken wird die NS-Zeit in nur wenigen Worten abgehandelt. Um gesicherte Aussagen zu diesem dunklen Kapitel treffen zu können, können wir heute fast nur noch auf die Gerichtsakten in den Entnazifizierungsverfahren der Jahre 1946-1949 zurückgreifen.

Die Käufer des jüdischen Besitzes (Häuser, Grundstücke, Mobiliar) betonen, dass die Juden hätten auswandern wollen und es somit ein „großes Entgegenkommen“ gewesen sei ihnen die Dinge abzukaufen. Manche Nachfahren der Erwerber sind gar der zynischen Meinung, dass ihre Vorfahren mit diesem Kauf „den Juden sogar das Leben gerettet hätten“, denn mit dem Geld hätten sie ausreisen können, um der Vernichtung zu entgehen. Die späteren Berichte sprechen eine andere Sprache.

Es wurden 14 Häuser sowie Gärten und Ackerland aus jüdischem Besitz an „Arier“ verkauft.

Die markantesten Gebäude und Anlagen waren aus dem Besitz des Max Hammerschlag, das spätere Bürgermeisteramt (heute Museum), aus dem Besitz der Familie Schloss das Haus der Darlehenskasse (Raiffeisenbank) und aus dem Besitz der Gebrüder Löwenstein die Baustoffhandlung an Fritz Blecher und Christian Balzer, sowie Häuser in der Poststraße. Heute denkt kaum noch jemand daran, dass hier einmal angesehene Judenfamilien wohnten, die Achtung und Ansehen bei den Ortseinwohnern besessen haben.

Hermann Fröhlich fand in seinen Archiven die ersten Gensunger Juden im Steuer-Kataster von 1746. Nachforschungen im Marburger Staatsarchiv ergaben nun den Nachweis, dass der erste Jude in Gensungen, Moses Hamerschlag aus Melsungen übergesiedelt war. Hahmerschlag, später Hammerschlag geschrieben, galt als sog. Schutzjude, d.h. er musste für seine Bürgerrechte Abgaben an die Obrigkeit in Kassel leisten. Im Originaltitel lautet die Urkunde aus dem Jahre 1726, „Aufnahme eines Schutzjuden nach Gensungen, wo kein Jude wohnt“. (HStAM,5, 18871) Somit ist urkundlich das Jahr 1726 als Jahr der ersten Zuwanderung von Juden in Gensungen belegt.

Das letzte Kapitel jüdischen Lebens in der Landgemeinde Gensungen wurde mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten im Frühjahr 1933 aufgeschlagen.

Tragender Pfeiler der NS-Ideologie war der extreme Judenhass. Für alle wirtschaftlichen Fehlentwicklungen und Gesellschaftsprobleme wurden einzig die Juden verantwortlich gemacht. Mit dem sog. „Blutschutzgesetz“ von 1935 wurden „Juden, Zigeunern, Neger und ihren Bastarden“ die bürgerlichen Rechte aberkannt.

Auf örtlicher Ebene bahnte sich die Nazi-Ideologie schon im Jahre 1934 ihren Weg. In die Heimatschutzvereine wurden, laut Satzung“, nur “arische“ Menschen aufgenommen. Nazis versuchten überall in den Vereinen Juden von der Mitgliedschaft auszuschließen und riefen zum Boykott jüdischer Geschäfte auf. Wie abgrundtief die Anfeindungen gegen jüdische Mitbürger waren belegt auch eine Aussage des bekannten Bauunternehmers und Oberscharführers der SA Johannes Fröhlich. In seiner Stellungnahme zur Klageschrift führt er aus, dass selbst das Sprechen mit Juden verboten war. (HHStAW 520/22, Nr. 2203) Eine weitere Steigerung erfuhr der Judenhass in den Novemberpogromen des Jahres 1938. Auch in Gensungen wurden am 9. November vorwiegend in den jüdischen Häusern der Bahnhofstraße Wohnungen geplündert, das Inventar auf die Straße geworfen und die Bewohner verprügelt. Mitglieder der Gensunger SA (SA-Sturm Gensungen hatte ca. 80 Mitglieder) und der Hitlerjugend waren dabei führend. Auch normale Bürger beteiligten sich, indem sie Inventar von der Straße aufsammelten um sich zu bereichern. Diese Vorgänge wurden leider noch nie in den ortsgeschichtlichen Berichten erwähnt. (HHStAW,520/28,2258)

Im Jahre 1934 wohnten 12 jüdische Familien mit 39 Personen in Gensungen. In den folgenden Jahren sahen sich die Juden gezwungen Hab und Gut zu verkaufen. Nach dem Krieg und Ende der NS-Herrschaft gab es noch eine ganze Reihe von Verfahren in denen die Käufer zu Nachzahlungen verpflichtet wurden, weil die erstmals gezahlten Preise kaum dem realen Verkehrswert entsprachen.

Deutschen bürokratischen Gepflogenheiten entsprechend wurden die Verkäufe in der NS-Zeit über das Gemeindebüro, Bürgermeister und Finanzämter abgewickelt. Am 2. August 1939 verkündetet Nazi-Bürgermeister Heinrich Mumberg in einem Schreiben an den Landrat des Kreises Melsungen, dass “Gensungen seit dem 25. Juli 1939 judenfrei ist“. (HStAM 180 Melsungen, 4917)

Die letzten Juden waren Julius Weinstein und seine Schwester Therese. Sie starben 1939. Metzger Siegfried Mansbach, dessen Laden in der Poststraße am 8.11.1939 verwüstet wurde, flüchtete nach Kassel. Aus Kassel wurde Mansbach 1941 in ein Vernichtungslager deportiert, wo er verstarb.

Die Gensunger Juden verrichteten ihren Glauben in der Felsberger Synagoge und waren in vielfacher Weise dorthin orientiert. In dem jüngst publizierten Buch von Dieter Vaupel „Etwas Schaden ist wohl bei den meisten Juden eingetreten“,jüdisches Leben in Felsberg, werden auch viele zusätzliche Informationen zu dieser Thematik vermittelt.

Quelle: DAS ALTE GENSUNGEN - verfasst von Rolf Fröhlich und Heinz Körner


Dieser Beitrag wurde eingestellt von: Elke Lück
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